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XXIV.

Gleich nach seiner Zurückkunft aus Italien hatte Reiser seine beiden Brüder nach Berlin kommen lassen, weil er sie zu seinen litterarischen Arbeiten brauchen und für ihr Forkommen Sorge tragen wollte.

Sie wohnten bei ihm und waren seine täglichen Gesellschafter, seine Theilnehmer an Freud und Leid.

Noch immer setzte Reiser seine gewohnte Lebensart fort. So lange, bis er heirathete, wohnte er größtentheils in einem Garten, wo er, selbst von seinen Brüdern ganz abgesondert, in einem kleinen Hüttchen ein wahres Eremitenleben führte.

Nur wenige Menschen besuchten ihn hier und er sah es auch äußerst ungern, wenn er durch einen bloßen Komplimentenbesuch in seinen Arbeiten gestört wurde.

Herr Salomon Maimon, den er wegen seines großen Scharfsinns außerordentlich schätzte, und ich waren fast die einzigen, die 208er gern bei sich sah, weil er sich unsertwegen nicht zu genieren brauchte.

Er lag dann halb nackt auf dem Sopha ausgestreckt, der bei Tage sein Stuhl, des Nachts ein Bette war, oder saß in einem Pelz gehüllt am glühend heißen Ofen.

Ganze Abende giengen uns so schnell hin, daß es oft schon zehn Uhr war, ehe wir an unser Abendbrod dachten.

Reiser arbeitete in diesem Zeitpunkt sehr viel, wie man aus dem weiter unten mitgetheilten Verzeichniß seiner Schriften sehen kann.

Manche schöne Nacht brachte er bei Ausarbeitung seiner mythologischen Dichtungen der Alten zu, und ich fand ihn Morgens um acht Uhr noch bei derselben Beschäftigung, wobei ich ihn Abends vorher verlassen hatte.

Selten gieng er aus, und wenn er nothwendig auswärts zu thun hatte, nahm er einen Wagen, weil er sich einbildete, zu schwach zum Gehn zu seyn. Mehr als zweihundert Thaler betrug daher in einem Jahre seine Fuhrmanns-Rechnung.

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Zur Verringerung dieser Ausgabe schaffte er sich in der Folge selbst Wagen und Pferde an, und kurz nach seiner Verheirathung brauchte er auch diese nur selten und allein in der Stadt; Spaziergänge von zwei Meilen machte er ohne Mühe zu Fuß. Ein Beweis, daß die vormalige Einbildung von seiner Schwäche übertrieben war.

Ueberhaupt fand Reiser oftmals Vergnügen, den Todkranken zu spielen, und spielte ihn so gut, daß Leute, die ihn nicht genau kannten, glaubten, er könne kaum einen Tag mehr leben.

Ein schwer heraus geathmetes Ja oder Nein, war alles, was man in solchen Augenblicken von ihm erhielt. Zuweilen aber, wenn ich mit Bedacht das Gespräch auf eine für ihn interessante Materie lenkte, vergaß er seine Rolle und konnte nun Stundenlang mit erhabener Stimme demonstriren, bis ihm auf einmal seine große Schwäche wieder einfiel.

Nur wenige seiner Sonderbarkeiten hatte Reiser während seines langen Aufenthalts in Italien abgelegt. Den größten Theil brachte 210er wieder mit und zeichnete sich dadurch bei mehrern Gelegenheiten von allen andern Menschen aus.

Trotz aller dieser Sonderbarkeiten aber, erwarb er sich die Freundschaft eines Jeden, der mit ihm umgieng, und wenn man auch seine Schwächen belächelte, so konnte man doch nicht umhin, den Schwachen innigst zu lieben.

[ Pniower Nr. 64: Wenn er seine Kräfte durch anhaltendes Arbeiten erschöpft hatte, und sein Thätigkeitstrieb abgestumpft war, so erhohlte er sich durch eine Reise nach Weimar, und in dem freundschaftlichen Umgange mit Göthe. Gestärkt an Seel und Leib kehrte er dann zu seinen Beschäftigungen mit neuer Lebenslust zurück.

Göthens Werke waren ihm Meisterstücke. Einige der neuern, seine Iphigenie, seinen Egmont, seinen Faust hatte er entstehn sehn.

Aus dem Faust erinnerte er sich noch einiger Szenen, die bei der nachmaligen Herausgabe nicht mit abgedruckt worden sind.

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So sagt z. B. Mephistopheles, Fausts dienstbarer Geist:

Sie meinen, wenn sie Teufel sagen,
Da sagen sie was Rechts.
Mich darf man nicht auf’s Gewissen fragen,
Ich schäme mich meines Geschlechts.

Faust frägt ihn, indem sie vor einem Kreuze vorbeigehn.

Mephisto hast Du Eil?
Was schlägst vorm Kreuz die Augen nieder?
Und dieser antwortet:
Ich weiß es wohl, es ist ein Vorurtheil;
Allein es ist mir ’mal zuwider.
 ]

Werthers Leiden hielt er für ein Werk, das unter allen, was die neuere Dichtkunst schuf, der griechischen Einfalt, Würd’ und Wahrheit am nächsten komme, und doch, wie mitten aus dem täglichen Leben herausgehoben, von unsrer Welt und unsern Sitten ein daurender Abdruck sey. Diese Erzählung ward die 212einzige noch wahre mögliche Epopee unsrer Zeiten

*) Einen sehr enthusiastischen Kommentar von ihm, über ein schönes Naturgemählde in diesem Buche, findet man im März 1792 der deutschen Monatsschrift.

.

Götz von Berlichingen war ihm unser erstes Originaldrama, wo alles Große, Edle und Schöne aus der Barbarei der mittlern Zeiten, sich von dem Gröbern, Unedlen und Gemeinen sondernd, und immer näher aneinander rückend, zuletzt ein täuschendes Ganze bildet und ein heller Spiegel des großen Lebens der Natur in allen Zweigen wird.

Reiser glaubte in einem jeden Meisterwerke, der Wissenschaft sowohl als der Kunst, müsse sich ein gewisser Punkt auffinden lassen, von welchem aus man die Zweckmäßigkeit des Ganzen allein zu beurtheilen im Stande sey. In diesen Punkt müßten alle Theile, wie die Radien eines Zirkels in dem Mittelpunkt desselben, zusammentreffen, und aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, sich uns als nothwendig, ihrem Wesen und ihren Stellungen nach, darstellen.

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Diesen Punkt zu finden hielt er freilich in manchen Fällen für sehr schwer, und nur mit vieler Mühe hatte es ihm bei einigen Werken geglückt.

In Werthers Leiden fand er ihn in dem Briefe

*) Originalausgabe von 1787. S. 119–123.

, wo dieser an seinen Freund schreibt:

„Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offnen Grabes. Kannst du sagen: das ist! da alles vorübergeht? u. s. w.

Hier fängt die Katastrophe an: das Auge des Unglücklichen ist getrübt. Wenn das Thal um ihn dampft, und er im hohen Grase am fallenden Bache liegt, fühlt er nicht mehr, wie sonst, die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns, in ewiger Wonne schwebend, trägt und erhält. Es hat sich ein 214Vorhang vor seine Seele gezogen. Er sieht in der herrlichen Natur nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer. Er muß nun fallen! –

Er theilte seine Gedanken dem Herrn von Göthe mit, dieser ermunterte ihn, darüber etwas auszuarbeiten, der Tod zog aber auch durch diesen Plan, so wie durch so manchen andern, einen Strich.

Reiser wußte eine Menge alter, in hiesiger Gegend ganz unbekannter, Volkslieder auswendig. Alle, auch sogar die größten Possen, erhielten durch ihn und aus seinem Munde ein gewisses Interesse, und wenn er aufgelegt war, gab er uns manches zum Besten, wobei wir uns vor Lachen hätten wälzen mögen.

Das tollste unter allen war wohl die Geschichte von David und Goliath, in plattdeutsche Verse gebracht.

Nach vielem Provociren von Seiten des Kleinen erscheint endlich der Kerel mit die 215lange Beine, wie der Riese hier sehr treffend genannt wird;

David nimmt sine Schlappschlür in die Fußt

Und schmitt’ em an’ Kopf, dat he pußt.

und es versteht sich wohl von selbst, daß nach einem solchen Wurf

De groote Kerel überkekelt
und sich upt Feld ganz lang utrekelt,

worauf es denn an’s Afgurgeln geht.

Zwang dies auch den Ernsthaftesten zum Lachen, so konnte man sich im Gegentheil bei Röschen Silbergrau und dem schwermüthigen Liedchen: Holzmeyers Truhe kaum der Thränen enthalten.

Durch Wind und Wetter
Und Regen und Schnee,
Ueber Meer und See,
Sucht Walter die Perle der Ruhe.

Unermüdet jagt er seinem verlohrnen Kleinode nach, nirgends kann er es finden. Ermat 216tet sinkt er endlich nieder und indem er seine trübe geweinten Augen auf immer schließen will,

blinkt ihm die Perle der Ruhe.
Sagt an, wo hauset der köstliche Schatz?
„Wo sonst, als in Holzmeyers Truhe!“

Auch in den Werken der neuern deutschen Dichter war Reiser sehr bewandert und von den Vorzüglichsten hätte er gewiß die Hälste wieder herstellen können, wenn sie durch einen Zufall verloren gegangen wären. Lehrgedichte waren ihm die liebsten und er bedauerte oft, daß sie so vernachläßigt würden.

Sein Lieblingslied, war das maurerische Gebet an die Weisheit, das er auch zu Ende seines Andreas Hartknopf mitgetheilt hat.

Vorzüglich sang er den letzten Vers gern; und die Worte:

Senkt nie den Blick auf die Beschwerden nieder!
Dort ist der Quell und dort ist Heil!
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Der Geist streb’ auf, kehr’ lichterhellter wieder,
Und nehm’ verklärt am Lichte Theil.

stärkten ihn oft zu neuer Thätigkeit, wenn er im wahren oder eingebildeten Kampf mit den Launen des Schicksals ermatten wollte.