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2/196. An Johann Christian Kestner

Am ersten Christtage, morgends nach sechs.

[Frankfurt 1773.]

Es ist ein Jahr dass ich um eben die Stunde an euch schrieb meine lieben, wie manches hat sich verändert seit der Zeit.

Ich hab euch lange nicht geschrieben, das macht dass es bunt um mich zugeht.

Ich dancke dir liebe Lotte dass du mir für meine Spinneweben einen Brief geschenckt hast. Wenn ich das gehofft hätte wäre mein Geschenck eigennützig gewesen. 135 Ich habe ihn wohl hundertmal geküßt. Es giebt Augenblicke wo man erst merkt wie lieb man seine Freunde hat.

Ich kann euch die Freude nicht beschreiben die ich hatte Mercken wieder zu sehn, er kam acht Tage eh ich's vermuthete, und sas bey meinem Vater in der Stube ich kam nach Hause, ohne was zu wissen, tret ich hinein und höre seine Stimme eher als ich ihn sehe. Du kennst mich Lotte.

Die Stelle in deinem Brief die einen Winck enthält von möglicher Näherung zu euch, ist mir durch die Seele gangen. Ach es ist das schon so lange mein Traum als ihr weg seyd. Aber es wird wohl auch Traum bleiben. Mein Vater hätte zwar nichts dagegen wenn ich in fremde Dienste ginge, auch hält mich hier weder Liebe noch Hoffnung eines Amts – und so scheint es könnt ich wohl einen Versuch wagen, wieder einmal wie's draussen aussieht.

Aber Kestner, die Talente und Kräffte die ich habe, brauch ich für mich selbst gar zu sehr, ich binn von ieher gewohnt nur nach meinem Instinkt zu handlen, und damit könnte keinem Fürsten gedient seyn. Und dann biss ich politische Subordination lernte – Es ist ein verfluchtes Volck, die Frankfurter, pflegt der Präsident v. Moser zu sagen, man kan ihre eigensinnigen Köpfe nirgends hin brauchen. Und wenn auch das nicht wäre, unter all meinen Talenten ist meine Jurisprudenz der geringsten eins. 136 Das bissgen Theorie, und Menschenverstand richtens nicht aus – Hier geht meine Praxis mit meinen Kenntnissen Hand in Hand, ich lerne ieden Tag und haudere mich weiter. – Aber in einem Justiz Collegio – Ich habe mich von ieher gehütet ein Spiel zu spielen da ich der unerfahrenste am Tisch war – Also – doch möcht ich wissen ob deine Worte etwas mehr als Wunsch und Einfall waren.

Meine Schwester ist brav. Sie lernt leben! und nur bey verwickelten misslichen Fällen erkennt der Mensch was in ihm stickt. Es geht ihr wohl und Schlosser ist der beste Ehmann wie er der zärtlichste und unverrückteste Liebhaber war.

113 Die liebe Max de la Roche heurathet – hierher einen angesehnen Handelsmann. Schön! Gar schön.

Euer Hans schreibt mir immer wies im deutschen Haus hergeht, und so hab ich eine komplete Chronick aller Löcher, Beulen, und Händel von einigem Belang seit eurer Abreise.

Obs wahr ist dass Dorthel heurathet?

In unsrer Stadt ist ein unerhörter Stern, seit einem halben Jahre haben wir wohl zwanzig Heurathen von Bedeutung. Unsre zwo nächsten Nachbarinnen haben mit meiner Schwester fast in einer Woche sich vergeben.

Der Türner bläst, die Glocken läuten, die Trommel geht, und dort hinten fängts an zu tagen.

[ Gräf Nr. 850b: Ich bin auch zeither fleisig gewest hab viele kleine Sachen gearbeitet, und ein Lustspiel mit Gesängen ist bald fertig, auch einige ansehnlichere Stücke in Grund gelegt, und nun wird drüber studirt. ]

Obiges Lustspiel ist ohne grossen Aufwand von Geist und Gefühl, auf den Horizont unsrer Ackteurs 114 und unsrer Bühne gearbeitet. Und doch sagen die Leute es wären Stellen drinn die sie nicht prästiren würden. Dafür kann ich nachher nicht.

Ihr sollts im Msspt. haben.

Hat Lotte den Canonicus Jacobi gesehn, gesprochen. Er ist auf sie aufmercksam gewesen, merck ich. Ist er noch da.

Falck ist ein trefflicher Junge, mich freuts dass er Liebe zu mir hat, er schreibt mir manchmal. Merck und ich haben eine wunderliche Scene gehabt, über eine Silhouette die Lavater mir schickte und die Lotten viel änlich sieht. Es lässt sich nicht sagen wies war. Es war den Abend seiner Ankunft, und ich habe draus gesehn dass er Lotten noch recht liebt. Denn wer Lotten kennt und nicht recht liebt den mag ich auch nicht recht.

Adieu ihr Kinder es wird Tag.

Wisst ihr schon dass Höpfner die Jfr. Thomä geheurathet hat.

Schreibt mir bald. Und ergözt euch an der Erinnerung meiner, wie ich mich an euch ergötze.

G.