358

1533.

1820, Ende September (?).

Mit Friedrich Förster und dessen Gattin

[ Gräf Nr. 1226: Zur Feier des siebzigsten Geburtstages Goethes hatte der Staatsrath Schulz in seinem, in Schönhausen 359 bei Berlin gelegenen Landhause die näheren Freunde und Freundinnen des Dichters zu einem festlichen Mittagsmahle versammelt. Reden, Toaste und Gesänge fehlten nicht und meine Frau trug ein von mir gedichtetes Lied, ›Der Musen und Grazien der Mark Glückwunsch‹, vor.

Als bei einem späteren Besuche in Weimar Goethe meiner Frau Freundliches über ihren Gesang sagte, erwiederte sie ihm,... daß sie von seiner gütigen Gesinnung, überrascht sei, da sie ja in Berlin zuhaus gehöre, wo die Musen und Grazien der Mark sich aber nicht rühmen könnten, in besonderer Gunst bei ihm zu stehen. Goethe nahm den Scherz wohl auf und erwiederte ihn mit der Versicherung, daß er von seinem Unglauben bekehrt worden sei, seitdem ihm eine der Musen und Grazien in Person, und zwar beides in Einer erschienen sei. Die Zeiten, meinte er, seien längst vorüber, wo Nicolai mit Biester und Gedike als die Alleinherrscher im Reiche des guten Geschmackes in Berlin dominirten. »Aber ich bin ja« – fiel ihm meine Frau in die Rede – »eine Tochter Gedike's, habe also auch etwas von jener gefährlichen Erbschaft angetreten.« Goethe, ohne im Geringsten in Verlegenheit gebracht zu sein, entgegnete, ihre beiden Hände fassend und ihr freundlich in die Augen sehend: wie er nicht geglaubt hätte, daß es ihm beschieden sein werde, in seinen alten Tagen noch einmal in die schönste Ausgabe von Gedike's Lesebuch einen, ihn über so 360 manches Wissenswerthe aufklärenden Blick thun zu dürfen. Gegen mich sich wendend, erinnerte Goethe daran: er habe vom Staatsrath Schultz erfahren, daß ich bei einer ihm zu Ehren auf Schultzes Landhause veranstalteten Festlichkeit ein Gedicht vorgetragen habe: ›Die neuen Musen und Grazien in der Mark.‹ »Lassen Sie es doch von Freund Zelter in Musik setzen und singen Sie mir es bei einem nächsten Besuche vor! Er ist den jüngern Musen diese Genugthuung schuldig, da sich die alten dieser Vergünstigung zu erfreuen gehabt.«

Goethe hatte sich in die Sophaecke zurückgezogen, um nicht von dem Lampenschein geblendet zu werden, gegen welchen er sich außerdem durch einen grünen Schirm zu schützen suchte. Meine Frau sang den ›König in Thule,‹ ›Meine Ruhe ist hin,‹ dann später ›O neige Du Schmerzensreiche‹ u.s.w. Nach einigen freundlichen, »dem seelenvollen und innig leidenschaftlichen« Vortrage der Sängerin gespendeten Worten sprach er sich anerkennend und eingehend über die Compositionen des Fürsten Radziwill aus, die ihm ja auch, und zwar vorzüglich die Chöre, von unserm gemeinschaftlichen Freunde Zelter als vorzüglich gelungen gerühmt worden seien. Nur damit erklärte er sich nicht einverstanden, daß der Componist auch die Selbstgespräche Faust's, welche sich wohl ohne musikalische Beihülfe zur Geltung bringen würden, mit Musik ausgestattet habe, wodurch das Drama den zwitterhaften 361 Charakter des Melodramas erhalte, welches weder Schauspiel noch Oper, nicht Fisch, nicht Fleisch sei. In dieser Meinung wurde er noch durch die Mittheilung bestärkt, daß wenn der Fürst die Monologe, welche er sicherer als irgend ein Schauspieler, auch mit Verständniß und tiefgefühlter Empfindung spreche und sich selbst auf dem Cello begleite, das Gedicht zur vollen Geltung gelange, wenn aber der Schauspieler die Rolle spreche, Musik und Rede oft auseinandergeriethen, wodurch Zögerung und Fortschreiten an unrechter Stelle unvermeidlich würden. So angemessen der Stimmung die musikalische Begleitung zu Faust's Monolog ›Verlassen hab' ich Feld und Auen‹ u.s.w sei, so störe es jedenfalls, daß der Sprechende, als abhängig, oft an unpassenden Stellen unterbrochen und aufgehalten von der musikalischen Begleitung erscheint. Er sei immer der Meinung gewesen, daß die bezeichneten Stellen keiner musikalischen Beihilfe bedürften, worin er vollkommen dem geistreichen Coleridge zustimme:

An orphic tale indeed,

A tale divine of high and passionate thoughts,

To their own music chaunted.

(Der Faust) Ein orphisches Gedicht fürwahr,

Ein göttliches, voll hoher, leidenschaftlicher Gedanken,

Ertönend zu der eigenen Musik.

Als von einer der anwesenden Damen bemerkt wurde, daß die Musik Beethoven's zu Egmont's Monolog im Kerker und zur Erscheinung Clärchens als Traumbild von unbeschreiblich rührender Wirkung sei, sagte Goethe: »Nun, da möchte ich doch auf den bedeutenden Unterschied der Situation der beiden Scenen aufmerksam machen. Faust kehrt von dem Spaziergange zurück; in ernste Betrachtungen versenkt, verweist er den knurrenden Pudel, der ihn stört, zur Ruh und begiebt sich dann daran, mit Sinnen und Nachdenken sich das Verständniß über die schwerste Stelle des Evangeliums zu erschließen. Dies alles scheint mir zu musikalischen Begleitung nicht geeignet. Da ist es doch etwas anderes, wenn Egmont den langentbehrten Schlaf herbeiwünscht.« Mit einem Ausdrucke tiefempfundenster Wehmuth, die uns alle zu Thänen rührte, recitirte Goethe die Worte: ›Süßer Schlaf! Du kommst, wie ein reines Glück, ungebeten, unerfleht, am willigsten. Du lösest die Knoten der strengen Gedanken, verwischest alle Bilder der Freude und des Schmerzens; ungehindert fließt der Kreis innerer Harmonieen, und eingehüllt in gefälligen Wahnsinn versinken wir und hören auf zu sein.‹ – »Hier hab' ich ausdrücklich angegeben, daß Musik seinen Schlummer begleiten soll, sanft während der Erscheinung des Traumbildes, das verschwindet, als die Trommeln der Wache ertönen, welche Egmont zum Blutgerüst begleiten soll. Hierbei ist allerdings die musikalische Begleitung angezeigt, und Beethoven ist mit bewundernswerthem Genie in meine Intentionen eingegangen.«

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An einem der folgenden Tage, an welchem wir wieder eine Einladung zu Frau v. Goethe in den Garten erhalten hatten, fand auch Goethe sich ein und brachte das Gespräch wieder auf die Compositionen des Fürsten Radziwill, theils um meiner Frau, welche von den Verehrerinnen des fürstlichen Componisten nicht der geringsten eine war, etwas Freundliches über ihren Gesang zu sagen, theils – und vielleicht mehr noch – um sie wegen ihrer Schwärmerei für ihre geliebte Vaterstadt Berlin mit dem ihm eigenen liebenswürdigen Humor zu necken, ] sagte er: »Berlin mag sich, seitdem ich dort war, und das ist schon lange her, sehr verändert und verschönert haben, allein zwei Dinge würde ich dort gewiß ebenso wie vordem alltäglich wiederfinden: unter den Linden Staubwolken und am Himmel Regenwolken.« – »Was die Staubwolken betrifft,« entgegnete Laura, »so wissen wir uns zu helfen: entweder wir machen uns nichts aus dem Staube oder« – »wir machen uns aus dem Staube« – unterbrach sie Goethe. »Dies letztere Mittel,« fügte Frau Ottilie hinzu, »würde sich doch wohl am meisten empfehlen.« – »Und was die Regenwolken betrifft,« nahm Laura die Rede wieder auf, »so würden Sie bei unserm Freund Zelter und auch sonst überall den Himmel voller Geigen finden, und das Cello des Fürsten Radziwill würde sich gewiß Ihres Beifalls erfreuen.« – Meine Frau erging sich aufs neue in lebhafter Schilderung des fürstlichen Componisten 364 und Virtuosen und fügte dann hinzu: »wir wollen es schon noch durchsetzen, daß Excellenz nach Berlin kommen; ich habe mit Doris und Rosamunde [Zelter's Töchtern] eine kleine Verschwörung gemacht.« – »Und wollen Sie mir davon nicht vorher einen kleinen Wink geben?« fragte Goethe. – »Nicht alles, aber etwas will ich davon verrathen: wir halten die in Aussicht gestellte Sendung der delicaten Teltower Rübchen zurück und liefern Sie nur aus, wenn Sie sie selbst abholen.« – »Da seht ihr guten Kinder nun,« sagte Goethe zu den andern Damen gewendet, »wie gefährlich die lieben Berlinerinnen sind: wenn es ihnen mit ihrem Lockvogel auf dem Cello nicht gelingt, so halten Sie eine Lockspeise bereit, sodaß wir amende doch wohl anbeißen.«