144

620.

1814, zwischen 24. September und 9. October.

In Heidelberg

a.

Nun laß mich Dir [Dr. Schmitz] von Goethe erzählen; daß er volle vierzehn Tage bei uns [den Brüdern Boisserée] gewohnt hat, wirst Du wissen, daß wir aber durch diesen längern Umgang, der in jeder Hinsicht sehr lehrreich und erfreulich für uns war, sein ganzes Vertrauen erworben und ein sehr enges Verhältniß mit ihm geknüpft haben, weißt Du noch nicht. Es ist die Rede davon, über unsere Sammlung, über unser Bemühen um das altdeutsche Bauwesen, und über die Art und Weise, wie wir dazu gekommen, eine eigene kleine Schrift zu schreiben. »Ei der Teufel« (sagte er mir mehrmal), »die Welt weiß noch nicht, was Ihr habt, und was Ihr wollt, wir wollen's ihr sagen, und wir wollen ihr, weil sie es doch nun einmal nicht anders verlangt, die goldenen Äpfel in silbernen Schalen bringen; wenn ich nach Haus komme, mache ich ein Schema, das schicke ich Euch, damit Ihr Eure Bemerkungen dazu machen und sehen könnt, was für Materialien mir allenfalls noch abgehen, die schickt Ihr mir, die Redaction behalte ich, und es müßte seltsam zugehen, wenn wir nicht etwas recht Schönes zu Stande brächten; es ist schwer, so was zu schreiben, aber ich weiß den Weg ins Holz, laßt mich nur machen, um Ostern komme ich wieder, 145 dann bringe ich es mit, und ist's Euch recht, so lassen wir es bei Mohr und Zimmer drucken.«

Ich theile Dir hier nur das Resultat, und zwar recht in Bausch und Bogen mit; denn sonst hätte ich Dir so viel zu schreiben, daß ich nicht fertig würde, Du kannst Dir nun das Übrige ziemlich denken. Um recht zu begreifen, welchen gewaltigen Eindruck unsere Bilder auf den alten, rüstigen Freund gemacht haben, mußt Du wissen, daß er nie einen Johann van Eyck, und überhaupt außer Cranach und wenige Dürer keine altdeutschen Bilder gesehen hatte. »Ach Kinder,« rief er fast alle Tage aus, »was sind wir dumm, was sind wir dumm! wir bilden uns ein, unsere Großmutter sei nicht auch schön gewesen; das waren andere Kerle als wir, ja Schwernoth! die wollen wir gelten lassen, die wollen wir loben und abermals loben! Die verdienen, daß Fürsten und Kaiserinnen, daß alle Nationen kommen, und ihnen huldigen!« – Jeden Tag, nur einige, wo wir uns mit dem Bauwesen beschäftigten, ausgenommen, war er morgens um acht Uhr im Bildersaal und wich nicht von der Stelle, bis zur Mittagszeit, da wurde dann alles besprochen, und mußten wir ihm alles Geschichtliche und unsere Ansichten und Bemerkungen sagen, wogegen wir die seinigen hörten. Er war mit unsrer ruhigen, philosophisch-kritischen Betrachtung der Kunstgeschichte sehr zufrieden, und ich kann sagen, daß ich über den Gang der Kunstgeschichte recht viel von ihm gelernt habe. So wie wir jetzt mit einander stehen, 146 denke ich noch manches von dem alten Meister zu lernen, besonders im Schreiben; ich habe schon mit ihm darüber gesprochen, und ich werde ihm nächstens den Entwurf zu einer Abhandlung schicken, damit er mir seine Bemerkungen macht.

b.

Wie Goethe sich in die farbenprächtige und wahrheitsvolle Idealwelt dieser altdeutschen Bilder [der Boisserée'schen Sammlung], in die überraschende Ursprünglichkeit ihrer Gedanken hineinlebte und über die empfangenen Eindrücke sich äußerte, ist für den alten Herrn im hohen Grade charakteristisch. Er betrachtete die Bilder nicht wie sie eins neben dem andern an der Wand hingen, er ließ sich immer nur eins, abgesondert von den andern, auf die Staffelei stellen und studirte es, indem er es behaglich genoß und seine Schönheiten, unverkümmert durch fremdartige Eindrücke von außen, sei es der Bilder oder Menschenwelt, in sich aufnahm. Er verhielt sich dabei still, bis er des Gesehenen, seines Inhalts und seiner tieferen Beziehungen Herr zu sein glaubte, und fand er dann Anlaß, Personen, die er liebte und schätzte, gegenüber seinen Empfindungen Ausdruck zu geben, so geschah es in einer Weise, die alle Hörer zwang. – Es war vor dem Bilde der Anbetung der heiligen drei Könige [von Johann Schwarz?], das damals für einen Van Eyck galt, da sagte er: »Das ist lauter Wahrheit und Natur; man kann von der Ruine zum Bilde und umgekehrt vom Bilde zur Schloßruine wandern und fände sich hier wie dort in gleich ernster Art angeregt und gehoben.« – »Da hat man nun,« äußerte er ein ander Mal, »auf seine alten Tage sich mühsam von der Jugend, welche das Alter zu stürzen kommt, seines eignen Bestehens wegen abgesperrt, und hat sich, um sich gleichmäßig zu erhalten, vor allen Eindrücken neuer und störender Art zu hüten gesucht, und nun tritt da mit einem Male vor mich hin eine ganz neue und bisher mir ganz unbekannte Welt von Farben und Gestalten, die mich aus dem alten Gleise meiner Anschauungen und Empfindungen herauszwingt – eine neue, ewige Jugend; und wollte ich auch hier etwas sagen, es würde diese oder jene Hand aus dem Bilde herausgreifen, um mir einen Schlag ins Gesicht zu versetzen, und der wäre mir wohl gebührend.« ..... – »Wie ganz anders muß zu Eyck's Zeit,« sagte er, »das Kunstleben und die Kunstliebe geblüht haben! Jetzt verschlingt der schlechte Luxus alles.« Und vor dem Bilde des Todes der Maria, das man für einen Jan Schoorel hielt, bemerkte er treffend: »aus dem schlägt uns die Wahrheit wie mit Fäusten entgegen!« – Die Bezeichnung »byzantinisch-niederrheinisch«, welche Goethe auf diese Bilder, namentlich das der heiligen Veronica anwandte, war nur eine unglückliche, keineswegs eine solche, wie man hat behaupten wollen, die ihn verhindert hätte, das Richtige zu erkennen; er nannte eben byzantinisch, was eine spätere, kaum weisere Schulsprache mit »romantisch« glaubte benennen zu müssen, und mit den bestimmtesten Worten sprach er es ebenso mündlich aus, wie er es schriftlich im 1. Heft von »Kunst und Alterthum« wiederholt gethan hat, daß in diesen Kölnischen und andern niederrheinischen Bildern eine Kunstentwickelung von solcher Selbständigkeit und so sehr von ächt deutschem Sinn und Ursprung gegeben sei, daß wir nicht nöthig hätten, italienischen oder andern fremdländischen Einfluß anzunehmen. In jenen geweihten Augenblicken, wo er vor den Bildern saß, ließ Goethe sich nur ungern durch Besuche stören, denen er ein tieferes Interesse daran nicht zutraute, und wie schätzbar die Personen ihm sonst auch sein mochten, er suchte sich ihrer auf irgend eine zulässige Art zu entledigen. Wenige Tage nach seiner ersten Ankunft (es wird am 26. September gewesen sein), ließ Frau v. Humboldt sich bei den Boisserées melden, als eben Goethe in der Sammlung vor dem Bilde des heiligen Lukas, der die Madonna mit dem Kinde malt [von van Eyck], saß. »Es steht Ihnen eine Überraschung bevor,« sagte Bertram, als er zu Goethe ins Zimmer trat. »Eine Überraschung? Herr! Sie wissen, wie sehr ich die Überraschungen liebe. Wer ist es?« »Frau v. Humboldt!« »F-r-a-u v-o-n H-u-m-b-o-l-dt? Sie möge kommen!« Und dabei veränderte sich Goethes Gesicht von oben bis unten, indem es die langweiligste Grimasse annahm, Frau v. Humboldt öffnete die Thüre, und 149 die Arme ausbreitend rief sie: »Goethe!« Dieser erhob sich ruhig von seinem Sessel, bat sie, sich neben ihn zu setzen. »Wissen Sie, wie man Salmen fängt?« fragte er. »Nein!« erwiderte ganz verwundert über solchen Empfang Frau v. Humboldt. »Mit einem Wehr fängt man sie,« fuhr er fort. »Sehen Sie! solch ein Wehr haben diese Herren« (auf Boisserées zeigend) »mir gestellt, und sie haben mich gefangen. Ich bitte Sie: machen Sie sich schnell auf und davon, daß es Ihnen nicht geht, wie mir. Ich bin nun einmal gefangen und muß hier sitzen bleiben und anschauen, aber das wäre nichts für Sie. Machen Sie also, machen Sie, daß Sie fortkommen.« – Frau v. Humboldt, die nicht gekommen war, Bilder anzuschauen, sondern in dem großen Mann einen alten Bekannten zu begrüßen und mit ihm zu plaudern, sah sich wider ihren Willen gleichsam zur Thür hinausgeschoben und entfernte sich, worauf Goethe zu seinen Freunden sagte: »Nun kommen Sie! Jetzt soll uns nichts mehr stören.« Doch verschmähte es Goethe nicht, die Huldigung der geistreichen Frau bei gelegenerer Zeit anzunehmen, als er in den nächstfolgenden Tagen zweimal bei ihr in Abendgesellschaft erschien.

Wiederholt war Goethe auch im Hause bei Voß, dem Übersetzer des Homer, den er vor vielen hochschätzte. Die schlichte Gutmüthigkeit der Hausfrau des berühmten Professors gab Anlaß zu manchem launigen Scherz. Goethe folgte ihr überall hin willig, als sie ihn bei 150 seinem ersten Besuch an allen Orten und Enden ihres Hauses herumführte und ihm auch das unbedeutendste Winkelchen, zuletzt selbst den Gänsestall unter der Treppe zeigte. »Sie sind ja nun einmal ein Mann, der in allen Dingen Bescheid weiß,« sagte sie, als er das nächste Mal wiederkam, »und so mögen Sie denn auch einen Streit schlichten, der zwischen mir und meinem Mann über ein Stück Camelot entstanden ist.« »Nun, so bringen Sie das Zeug her!« rief Goethe. Sie brachte es, indem sie bemerkte: »Mein Mann will einen Schlafrock daraus haben und ich einen Vorhang für sein Büchergestell; ich halte das letztere für nöthiger, weil die Bücher durch den Staub zu Grunde gehn.« »Ei was!« erwiderte Goethe, »was zanken Sie sich darum! Theilen Sie das Stück und machen Sie Ihrem Mann statt des Rocks nur ein Camelotjäckle, und aus dem andern Stück können Sie ein Vorhängle für die Bücher machen.«

Bald darauf kam Voß zu den Boisserées, als sich gerade Goethe im Bildersaal befand. Man meldete diesem seine Ankunft. »Laßt ihn nur herein!« rief Goethe; »dem will ich sein Camelot anstreichen!« Als Voß eingetreten war, begann Goethe mit ihm angesichts der Bilder über den Unterschied der bildenden und dichtenden Kunst zu sprechen, wobei gar manches geistreiche und treffende Wort gewechselt wurde, und zwar soll, was Goethe bei dieser Gelegenheit über Wesen und Zweck der bildenden Kunst sagte, über alle Beschreibung 151 köstlich gewesen sein. Er erkannte halb im Scherz, halb im Ernst der bildenden Kunst den Vorzug zu, indem er fortfuhr: »Ich bin ein großer Freund von Homer, das wissen Sie, und von Ihnen kann ich ein Gleiches sagen. Wenn Sie nun heute damit zu mir kommen, so bin ich es auch zufrieden und höre es abermals an, wenn Sie aber das dritte Mal kommen, so sage ich: Laufen Sie zum Teufel! Schenkt man Ihnen aber einen ächten Raphael, oder auch nur eine gute Copie eines solchen, so hängen Sie das Bild gewiß dahin, wo Sie es alle Tage sehen können, und Sie werden es, sooft Sie davortreten, mit immer neuem Vergnügen betrachten. Das ist der Unterschied der Poesie und der bildenden Kunst, daß diese auf solche Weise immer neu, frisch und lebendig vor unsre Sinne tritt.« Voß wußte hierauf nichts zu antworten. »Wäre ich an seiner Stelle gewesen,« sagte Goethe, indem er dies erzählte, »ich würde schon gewußt haben, was ich antworten soll.«

c.

Bertram ..... wußte auch sonst wohl gar manches lustige Geschichtlein von Goethe ... zu erzählen, das dem Gedächtniß erhalten zu werden verdient ..... Jeden Abend, erzählte Bertram, ließ Goethe seinen Bedienten zu sich auf die Stube kommen, um Rechnung mit ihm abzuhalten über alle Ausgaben des Tags, die größten wie die kleinsten, und für den folgenden Tag 152 den vorläufigen Etat im Ausgabebuch festzustellen. Als Bertram über diese haushälterische, dem Materiellen zugewendete Sorgfalt des Dichters seine Verwunderung äußerte, sagte Goethe: »Wenn die Prosa abgethan ist, kann die Poesie um so lustiger gedeihen. Man muß sich das Unangenehme vom Halse schaffen, um angenehm leben zu können, und der Schlaf bekommt nur um so besser.«

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Aus den früheren Mittheilungen wissen wir, daß Goethe in Heidelberg allmorgendlich die Schloßruine besuchte. Dorthin wünschte er gleich am andern Tage nach seiner Ankunft [25. September] geführt zu werden, doch so, daß es kein Aufsehen errege, da man ihm, wie er vernommen, schon überall auflaure. Die Boisserées versprachen ihn durch den Thibaut'schen Garten dorthin zu bringen, was auch geschah. Sie begleiteten ihn ein Stück Weges hinauf und ließen ihn dann allein, wie es sein Wunsch war. Inzwischen hatte oben auf der Bank schon ein anderer Gast platzgenommen; dies war Schwarz, der Geheime Kirchenrath und Verfasser des bekannten Werkes über die Erziehungslehre, der zufälligerweise erfahren hatte, daß Goethe in Heidelberg sei und früh die Schloßruine besuchen wolle. Er war ihm auf diese Weise zuvorgekommen, und als Goethe erschien, redete er denselben auch sogleich an und pries sich glücklich, ihn endlich zu sehen und fragen zu können, was er denn eigentlich mit dem »Wilhelm Meister« 153 beabsichtigt habe; er habe ihn gewiß für ein Erziehungsinstitut geschrieben. Goethe, der dem unzeitigen Frager nicht ausweichen konnte, fügte sich in das Unvermeidliche, indem er erwiderte: »Das habe ich bisher selbst nicht gewußt, doch nun leuchtet es mir vollkommen ein; ja, ja! ich habe den ›Wilhelm Meister‹ für ein Erziehungsinstitut geschrieben, und ich bitte Sie, dies ja überall in der Welt bekannt zu machen.« – Schwarz war entzückt über die neue Entdeckung und lief sogleich in ganz Heidelberg umher, um seinen Bekannten mitzutheilen, daß Goethe nun wisse, warum er den »Wilhelm Meister« geschrieben habe.

Goethe pflegte in Heidelberg die Sonnenuntergänge von der Höhe einer Pfarrei herab zu beobachten und bei dieser Gelegenheit seinen Gefühlen im Anblick des erhabenen Naturschauspiels dem ihn begleitenden Freunde Sulpiz Boisserée gegenüber in der ergreifendsten Weise Ausdruck zu geben. Man wußte das in der Stadt. Als nun eines Abends Goethe wieder einmal mit seinem Freunde die Höhe hinanstieg, um die Sonne untergehen zu sehen, hatten ein paar Frauenzimmer, die ihn dabei zu belauschen wünschten, sich hinter das Gebüsch versteckt. Goethe bemerkte sie, that aber nicht, als ob dies der Fall sei, und als er oben angekommen war, begann er einen so abschreckenden Sermon über das Altwerden der Sonne, die anfange, fahl und bleich auszusehen, daß es nicht lange dauerte, und die Gestalten hinter dem Busch waren verschwunden. Nie 154 war, erzählte Sulpiz später seinen Bekannten, Goethe größer, seelenvoller in seinen Betrachtungen, als an diesem herrlichen Abende, nachdem die unberufenen Lauscherinnen sich entfernt hatten.

Wir wissen aus Goethes eignen Bekenntnissen, daß er jede Maske, auch die des liberalistischen Indifferentismus annehmen konnte, um sich dahinter gegen Pedantismus und Dünkel zu schützen. »Es kommt nur auf mich an,« sagte er eines Tags bei den Boisserées, »mit jeder Gesellschaft, wie sie auch sei, in guter Art fertig zu werden. Vermuthe ich in ihr einfältige und dumme Leute, so stelle ich mir vor, daß es lauter geistreiche seien, dann erhebe ich sie zu mir und zwinge sie, auch ihren Geist leuchten zu lassen; und umgekehrt, wenn ich zu jemandem komme, der sich einbildet, mehr zu sein und zu wissen, als die andern Menschenkinder, dann denke ich mir das Gegentheil und behandle ihn auch so, indem ich ihn beschäme und nöthige, seine Nase nicht mehr so hoch zu tragen.«

Goethe suchte alles, was in Leben und Dichtung ihm entgegentrat, möglichst unter dem ästhetischen Gesichtspunkt zu fassen. »Wenn etwas auch nicht schön ist,« pflegte er zu sagen, »so müssen wir doch soviel Phantasie haben, es schön zu finden.«

Zudringlichkeit und Hochmuth waren ihm so verhaßt, als Gespreiztheit und Ziererei. Als Frau v. Humboldt in geselligem Kreise ihn fragte, ob sie ihm nicht ihr Töchterlein vorführen dürfe, die gerade etwas 155 declamiren wollte, brummte er ein verdrießliches »Ja!« Die Kleine trat auf und declamirte mit vieler Selbstgefälligkeit Stücke aus der »Jungfrau von Orleans« und »Maria Stuart«. Goethe saß dabei, mürrischen Gesichts vor sich hinsehend, ohne ein Wort zu sagen. Als sie fort waren, rief er: »Welche Unverschämtheit! wäre dieser kleine Balg nicht werth, daß man ihm die Ruthe applicirte? Stellt sie sich so keck vor mich hin und declamirt mir diese Geschichten vor!«

Einst war Goethe zu Voß eingeladen. Als sie bei Tisch saßen, wird Voß herausgerufen, und führt verabredetermaßen einen jungen Dichter, Kunz mit Namen, der für Almanachs gearbeitet hatte, herein, stellt ihn vor und setzt ihn neben Goethe. Dieser Kunz war, ich weiß nicht mehr aus welchem kleinen Staate. Goethe ergriff das Wort und sagte: »Nun, Ihr Fürst ist ein strenger Herr: es soll schwer halten, dort einen Paß zu bekommen. Könnten Sie mir wohl einen solchen zeigen?« »O ja wohl! Sehr gern!« Und damit holte Kunz aus der Seitentasche seines Rockes den Paß. »Bitte, leihen Sie mir ihn bis morgen!« sprach Goethe; »es ist doch ein merkwürdiges Stück; das muß ich ein wenig sorgfältiger mir anschauen.« Wer war glücklicher, als der junge Dichter? Er sah sich schon bei Goethe, eingeladen von ihm und seines Schutzes theilhaftig. »Wissen Sie,« sagte Goethe später zu einigen seiner Gäste, die sich über diese Paßliebhaberei wunderten, »warum ich mir das Papier geben ließ? 156 Ich sah aus Kunz's andrer Rocktasche ein Packet Gedichte gucken, und lieber wollte ich den Paß lesen, als die.«

Goethe las sehr gut, aber selten vor; es war daher großer Jubel im Hause bei den Boisserées, als er ihnen ankündigte, daß er in der nächsten Abendgesellschaft etwas von sich vorlesen wolle. Melchior meldete dies Bertram mit dem Bedeuten, daß er dabei erscheinen müsse. Bertram antwortete: »Laßt mich nur machen!« und begab sich zu Goethe, indem er sagte: »Muß ich heut Abend erscheinen?« »Muß ich heut Abend erscheinen – was heißt das?« fragte dieser. »Ich muß Ihnen gestehen, Herr Geheimrath,« erwiderte Bertram, »daß Sie mir keinen größeren Possen spielen können, als wenn Sie etwas vorlesen: ich habe keine Ruhe dazu, es mit anzuhören.« »Gehen Sie ohne Gewissensbisse in pace!« antwortete Goethe, indem er die Arme zu einem Kreuze übereinander legte.

Der Professor des Civil- und Criminalrechts Christoph Reinhard Martin in Heidelberg hatte einen schönen Garten, wohin Goethe öfter kam, als er sich in jener Stadt aufhielt. Sie saßen beide im Gartenhause; Martin klagte, daß man die schönen hohen Waldbäume in der Nähe seines ländlichen Sitzes auf Befehl der Regierung habe abschlagen lassen und hielt letzterer gerade keine Lobrede. »Wie lange dauert es denn,« fragte Goethe, »bis die Bäume wieder herangewachsen sind?« »Ja, eben das ist's! Mindestens zwanzig 157 bis fünfundzwanzig Jahre,« antwortete Martin. »Nun!« sagte Goethe, »dann haben Sie ja noch lange Zeit, um sich wieder zu ärgern.«

d.

Du [Frh. v. Truchseß] forderst einen Jubelbrief über Goethe, aber den kann ich nun nicht mehr schreiben, da die Jubelperiode vorüber ist und der Jubelsenior fern. Das hätte unter seinen Augen geschehen müssen. Goethe ist volle vierzehn Tage bei uns gewesen und hat bei den Brüdern Boisserée, eigentlich wohl bei ihren Gemälden gewohnt. Sein erster Besuch war bei meinen Eltern, und er kam so freundlich und zutraulich wie in den ersten Jenaer Zeiten. Am folgenden Tage gingen die Schmausereien an, und wenn so was im Gang ist, hört es nicht auf. Auch wir Professoren nebst einem Anhange von Beamten, Ärzten u.s.w. gaben ihm einen gemeinschaftlichen Schmaus im Karlsberge. So hat ihn denn jeder nach Herzenslust sehn können; genossen haben ihn nur wenige; denn beim Essen und Trinken, besonders wo Gaffer herumstehn, ist Goethe ein Mann wie unsereins. Nur zweimal kam ich dazu, ein trauliches Wort mit ihm zu sprechen, und sah zu meiner Freude, daß er mir und meinem Treiben noch hold ist. Besonders herzlich war er gegen mich, als ich ihm am Tage vor seiner Abreise [also 8. October] einen Morgenbesuch machte. Wir sprachen viel über Calderon. Auch er ist entzückt von Gries' Übersetzung; auch er bewundert mehr das wollüstige Farbenspiel, als die Charakteristik Calderon's, in der er weit unter Shakespeare stehe. In den Intriguenstücken sei er besonders Meister, und hier müsse der Deutsche noch recht bei ihm in die Schule gehn.

Daß die Heidelberger über Goethe entzückt sind, versteht sich. Alt und jung preist seine Leutseligkeit, und jeder verwahrt sorgfältig die ihm zugeworfenen Geistesbrocken, wenn sie auch noch so mager sind. Sogar mein College [ Gräf Nr. 1155: Moser, der aus einem deutschen Barbier ein lateinischer Professor der Medicin geworden, ist seines Gespräches gewürdigt. »Wir haben über den ›Faust‹ gesprochen,« sagte er mir. ] »Und ich mit ihm über die Feldmäuse,« antwortete ich ganz ernsthaft. Ein anderer, ein Mann von Geschmack und ästhetischer Bildung, fing an über den Barbarismus zu radotiren, womit die Handschuchsheimer den schönen Heiligenberg niedergeholzt hätten. »Beruhigen Sie sich,« sagte Goethe; »in einigen Jahren ist er wieder grün, und dann hat Ihr Ärger volle 22 Jahre Ruhe; denn so lange muß er nach forstlichen Regeln schon grün bleiben.« Der Philister guckte Goethen an und schien an seinem Geschmacke ganz irre zu werden. – Daß Goethe sich mit manchen zu seiner Gemüthsergötzung unterhalten hat, ahndet mancher nicht. Andere dienten dazu, seinen Schatz von Menschenkenntniß zu erweitern, oder seine Phantasie mit irgend einer Personage für ein zukünftiges Fastnachtsspiel zu bereichern.