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1144.

1828, 11. März.

Mit Johann Peter Eckermann

Ich bin seit mehreren Wochen nicht ganz wohl. Ich schlafe schlecht, und zwar in den unruhigsten Träumen vom Abend bis zum Morgen, wo ich mich in sehr verschiedenartigen Zuständen sehe, allerlei Gespräche mit bekannten und unbekannten Personen führe, mich herumstreite und zanke, und zwar alles so lebendig, daß ich mir jeder Einzelheit am andern Morgen noch deutlich bewußt bin. Dieses Traumleben aber zehrt von den Kräften meines Gehirns, sodaß ich mich am Tage schlaff und abgespannt fühle, zu jeder geistigen Thätigkeit ohne Lust und Gedanken.

Ich hatte Goethen wiederholt meinen Zustand geklagt, und er hatte mich wiederholt getrieben, mich doch meinem Arzte zu vertrauen. »Was Euch fehlt,« sagte er, »ist gewiß nicht der Mühe werth, wahrscheinlich nichts als eine kleine Stockung, die durch einige Gläser Mineralwasser oder ein wenig Salz zu heben ist. Aber laßt es nicht länger so fortschlendern, sondern thut dazu!«

Goethe mochte ganz recht haben, und ich sagte mir 272 selber, daß er recht habe; allein jene Unentschlossenheit und Unlust wirkte auch in diesem Falle, und ich ließ wiederum unruhige Nächte und schlechte Tage verstreichen, ohne das mindeste zur Abstellung meines Übels zu thun.

Als ich nun heute nach Tische abermals nicht ganz frei und heiter vor Goethe erschien, riß ihm die Geduld, und er konnte nicht umhin mich ironisch anzulächeln und mich ein wenig zu verhöhnen.

»Ihr seid der zweite Shandy,« sagte er, »der Vater jenes berühmten Tristram, den ein halbes Leben eine knarrende Thür ärgerte und der nicht zu dem Entschluß kommen konnte, seinen täglichen Verdruß durch ein paar Tropfen Öl zu beseitigen.

Aber so ist's mit uns allen! Des Menschen Verdüsterungen und Erleuchtungen machen sein Schicksal! Es thäte uns noth, daß der Dämon uns täglich am Gängelbande führte und uns sagte und triebe, was immer zu thun sei. Aber der gute Geist verläßt uns, und wir sind schlaff und tappen im Dunkeln.

Da war Napoleon ein Kerl! Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vortheilhaft und nothwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen. Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg. Von ihm könnte man sehr wohl sagen, daß er sich in dem Zustande einer fortwährenden Erleuchtung 273 befunden; weshalb auch sein Geschick ein so glänzendes war, wie es die Welt vor ihm nicht sah und vielleicht auch nach ihm nicht sehen wird.

Ja, ja, mein Guter, das war ein Kerl, dem wir es freilich nicht nachmachen können!«

Goethe schritt im Zimmer auf und ab. Ich hatte mich an den Tisch gesetzt, der zwar bereits abgeräumt war, aber auf dem sich noch einige Reste Wein befanden nebst einigem Biskuit und Früchten.

Goethe schenkte mir ein und nöthigte mich, von beiden etwas zu genießen. »Sie haben zwar verschmäht,« sagte er, »diesen Mittag unser Gast zu sein, doch dürfte ein Glas von diesem Geschenk lieber Freunde Ihnen ganz wohl thun!«

Ich ließ mir so gute Dinge gefallen, während Goethe fortfuhr im Zimmer auf- und abzugehen und aufgeregten Geistes vor sich hin zu brummen und von Zeit zu Zeit unverständliche Worte herauszustoßen.

Das, was er soeben über Napoleon gesagt, lag mir im Sinn, und ich suchte das Gespräch auf jenen Gegenstand zurückzuführen.

»Doch scheint es mir,« begann ich, »daß Napoleon sich besonders in dem Zustande jener fortwährenden Erleuchtung befunden, als er noch jung und in aufsteigender Kraft war, wo wir denn auch einen göttlichen Schutz und ein beständiges Glück ihm zur Seite sehen. In spätern Jahren dagegen scheint ihn jene 274 Erleuchtung verlassen zu haben sowie sein Glück und sein guter Stern.«

»Was wollt Ihr!« erwiederte Goethe. »Ich habe auch meine Liebeslieder und meinen ›Werther‹ nicht zum zweiten Mal gemacht. Jene göttliche Erleuchtung, wodurch das Außerordentliche entsteht, werden wir immer mit der Jugend und der Productivität im Bunde finden, wie denn Napoleon einer der productivsten Menschen war, die je gelebt haben.

Ja, ja, mein Guter, man braucht nicht bloß Gedichte und Schauspiele zu machen, um productiv zu sein, es giebt auch eine Productivität der Thaten, und die in manchen Fällen noch um ein Bedeutendes höher steht. Selbst der Arzt muß productiv sein, wenn er wahrhaft heilen will; ist er es nicht, so wird ihm nur hin und wieder wie durch Zufall etwas gelingen, imganzen aber wird er nur Pfuscherei machen.«

»Sie scheinen,« versetzte ich, »in diesem Falle Productivität zu nennen, was man sonst Genie nannte.«

»Beides sind auch sehr nahe liegende Dinge,« erwiederte Goethe. »Denn was ist Genie anders als jene productive Kraft, wodurch Thaten entstehen, die vor Gott und der Natur sich zeigen können, und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind? Alle Werke Mozarts sind dieser Art; es liegt in ihnen eine zeugende Kraft, die von Geschlecht zu Geschlecht fortwirkt und sobald nicht erschöpft und verzehrt sein dürfte. Von andern großen Componisten und Künstlern gilt dasselbe. Wie haben nicht Phidias und Raphael auf nachfolgende Jahrhunderte gewirkt, und wie nicht Dürer und Holbein! Derjenige, der zuerst die Formen und Verhältnisse der altdeutschen Baukunst erfand, sodaß im Laufe der Zeit ein Straßburger Münster und ein Kölner Dom möglich wurde, war auch ein Genie; denn seine Gedanken haben fortwährend productive Kraft behalten und wirken bis auf die heutige Stunde. Luther war ein Genie sehr bedeutender Art! er wirkt nun schon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören wird productiv zu sein, ist nicht abzusehen. Lessing wollte den hohen Titel eines Genies ablehnen, allein seine dauernden Wirkungen zeugen wider ihn selber. Dagegen haben wir in der Literatur andere und zwar bedeutende Namen, die, als sie lebten, für große Genies gehalten wurden, deren Wirken aber mit ihrem Leben endete, und die also weniger waren, als sie und andere dachten; denn, wie gesagt, es giebt kein Genie ohne productiv fortwirkende Kraft, und ferner, es kommt dabei gar nicht auf das Geschäft, die Kunst und das Metier an, das einer treibt, es ist alles dasselbige. Ob einer sich in der Wissenschaft genial erweist, wie Oken und Humboldt, oder im Krieg und der Staatsverwaltung wie Friedrich, Peter der Große und Napoleon, oder ob einer ein Lieb macht wie Béranger, es ist alles gleich 276 und kommt bloß darauf an, ob der Gedanke, das Aperçu, die That lebendig sei und fortzuleben vermöge.

Und dann muß ich noch sagen: nicht die Masse der Erzeugnisse und Thaten, die von jemand ausgehen, deutet auf einen productiven Menschen. Wir haben in der Literatur Poeten, die für sehr productiv gehalten werden, weil von ihnen ein Band Gedichte nach dem andern erschienen ist. Nach meinem Begriffe aber sind diese Leute durchaus unproductiv zu nennen, denn was sie machten, ist ohne Leben und Dauer. Goldsmith dagegen hat so wenige Gedichte gemacht, daß ihre Zahl nicht der Rede werth, allein dennoch muß ich ihn als Poeten für durchaus productiv erklären, und zwar eben deswegen, weil das wenige, was er machte, ein inwohnendes Leben hat, das sich zu erhalten weiß.«

Es entstand eine Pause, während welcher Goethe fortfuhr im Zimmer auf- und abzugehen. Ich war indes begierig, über diesen wichtigen Punkt noch etwas weiteres zu hören, und suchte daher Goethen wieder in Anregung zu bringen.

»Liegt denn,« sagte ich, »diese geniale Productivität bloß im Geiste eines bedeutenden Menschen, oder liegt sie auch im Körper?«

»Wenigstens,« erwiederte Goethe, »hat der Körper darauf den größten Einfluß. Es gab zwar eine Zeit, wo man in Deutschtand sich ein Genie als klein, 277 schwach, wohl gar buckelig dachte, allein ich lobe mir ein Genie, das den gehörigen Körper hat.

Wenn man von Napoleon gesagt, er sei ein Mensch aus Granit, so gilt dieses besonders auch von seinem Körper. Was hat sich der nicht alles zugemuthet und zumuthen können! Von dem brennenden Sande der Syrischen Wüste bis zu den Schneefeldern von Moskau, welche Unsumme von Märschen, Schlachten und nächtlichen Bivouacs liegt da nicht in der Mitte! Und welche Strapazen und körperliche Entbehrungen hat er dabei nicht aushalten müssen! Wenig Schlaf, wenig Nahrung, und dabei immer in der höchsten geistigen Thätigkeit! Bei der fürchterlichen Anstrengung und Aufregung des 18. Brumaire ward es Mitternacht, und er hatte den ganzen Tag noch nichts genossen, und ohne nun an seine körperliche Stärkung zu denken, fühlte er sich Kraft genug, um noch tief in der Nacht die bekannte Proclamation an das französische Volk zu entwerfen! Wenn man erwägt, was der alles durchgemacht und ausgestanden, so sollte man denken, es wäre in seinem vierzigsten Jahre kein heiles Stück mehr an ihm gewesen; allein er stand in jenem Alter noch auf den Füßen eines vollkommenen Helden.

Aber Sie haben ganz recht: der eigentliche Glanzpunkt seiner Thaten fällt in die Zeit seiner Jugend. Und es wollte etwas heißen, daß einer aus dunkler Herkunft und in einer Zeit, die alle Capacitäten in Bewegung setzte, sich so herausmachte, um in seinem 278 siebenundzwanzigsten Jahre der Abgott einer Nation von dreißig Millionen zu sein! Ja, ja, mein Guter, man muß jung sein, um große Dinge zu thun. Und Napoleon ist nicht der einzige.«

»Sein Bruder Lucian,« bemerkte ich, »war auch schon früh sehr hohen Dingen gewachsen. Wir sehen ihn als Präsidenten der Fünfhundert und darauf als Minister des Innern im kaum vollendeten fünfundzwanzigsten Jahre.«

»Was wollen Sie mit Lucian?« fiel Goethe ein. »Die Geschichte bietet uns der tüchtigsten Leute zu Hunderten, die sowohl im Cabinet als im Felde in noch jugendlichem Alter den bedeutendsten Dingen mit großem Ruhme vorstanden.

Wäre ich ein Fürst,« fuhr er lebhaft fort, »so würde ich zu meinen ersten Stellen nie Leute nehmen, die bloß durch Geburt und Anciennetät nach und nach heraufgekommen sind und nun in ihrem Alter in gewohntem Gleise langsam gemächlich fortgehen, wobei denn freilich nicht viel Gescheites zu Tage kommt. Junge Männer wollte ich haben – aber es müßten Capacitäten sein, mit Klarheit und Energie ausgerüstet, und dabei vom besten Wollen und edelsten Character. Da wäre es eine Lust zu herrschen und sein Volk vorwärts zu bringen! Aber wo ist ein Fürst, dem es so wohl würde und der so gut bedient wäre!

Große Hoffnung setze ich auf den jetzigen Kronprinzen von Preußen. Nach allem, was ich von ihm 279 kenne und höre, ist er ein sehr bedeutender Mensch, und das gehört dazu, um wieder tüchtige und talentvolle Leute zu erkennen und zu wählen; denn man sage was man will: das Gleiche kann nur vom Gleichen erkannt werden, und nur ein Fürst, der selber große Fähigkeiten besitzt, wird wiederum große Fähigkeiten in seinen Unterthanen und Dienern gehörig erkennen und schätzen. Dem Talente offene Bahn! war der bekannte Spruch Napoleons, der freilich in der Wahl seiner Leute einen ganz besondern Takt hatte, der jede bedeutende Kraft an die Stelle zu setzen wußte, wo sie in ihrer eigentlichen Sphäre erschien, und der daher auch in seinem Leben bei allen großen Unternehmungen bedient war wie kaum ein anderer.«

Goethe gefiel mir diesen Abend ganz besonders. Das Edelste seiner Natur schien in ihm rege zu sein; dabei war der Klang seiner Stimme und das Feuer seiner Augen von solcher Kraft, als wäre er von einem frischen Auflodern seiner besten Jugend durchglüht. Merkwürdig war es mir, daß er, der selbst in so hohen Jahren noch einem bedeutenden Posten vorstand, so ganz entschieden der Jugend das Wort redete und die ersten Stellen im Staat, wenn auch nicht von Jünglingen, doch von Männern in noch jugendlichem Alter besetzt haben wollte. Ich konnte nicht umhin einige hochstehende deutsche Männer zu erwähnen, denen im hohen Alter die nöthige Energie und jugendliche Beweglichkeit zum Betriebe der bedeutendsten 280 und mannigfaltigsten Geschäfte doch keineswegs zu fehlen scheine.

»Solche Männer und ihresgleichen,« erwiederte Goethe, »sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandtniß hat; sie erleben eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind.

Jede Entelechie nämlich ist ein Stück Ewigkeit, und die paar Jahre, die sie mit dem irdischen Körper verbunden ist, machen sie nicht alt. Ist diese Entelechie geringer Art, so wird sie während ihrer körperlichen Verdüsterung wenig Herrschaft ausüben, vielmehr wird der Körper vorherrschen, und wie er altert, wird sie ihn nicht halten und hindern. Ist aber die Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen Naturen der Fall ist, so wird sie bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers nicht allein auf dessen Organisation kräftigend und veredelnd einwirken, sondern sie wird auch, bei ihrer geistigen Übermacht, ihr Vorrecht einer ewigen Jugend fortwährend geltend zu machen suchen. Daher kommt es denn, daß wir bei vorzüglich begabten Menschen auch während ihres Alters immer noch frische Epochen besonderer Productivität wahrnehmen; es scheint bei ihnen immer einmal wieder eine temporäre Verjüngung einzutreten, und das ist es, was ich eine wiederholte Pubertät nennen möchte.

Aber jung ist jung, und wie mächtig auch eine Entelechie sich erweise, sie wird doch über das Körperliche nie ganz Herr werden, und es ist ein gewaltiger 281 Unterschied, ob sie an ihm einen Alliirten oder einen Gegner findet.

Ich hatte in meinem Leben eine Zeit, wo ich täglich einen gedruckten Bogen von mir fordern konnte, und es gelang mir mit Leichtigkeit. Meine ›Geschwister‹ habe ich in drei Tagen geschrieben, meinen ›Clavigo‹, wie Sie wissen, in acht. Jetzt soll ich dergleichen wohl bleiben lassen; und doch kann ich über Mangel an Productivität selbst in meinem hohen Alter mich keineswegs beklagen. Was mir aber in meinen jungen Jahren täglich und unter allen Umständen gelang, gelingt mir jetzt nur periodenweise und unter gewissen günstigen Bedingungen. Als mich vor zehn, zwölf Jahren, in der glücklichen Zeit nach dem Befreiungskriege, die Gedichte des ›Diwan‹ in ihrer Gewalt hatten, war ich productiv genug, um oft in einem Tage zwei bis drei zu machen; und auf freiem Felde, im Wagen oder im Gasthof, es war mir alles gleich. [ Gräf Nr. 1610: Jetzt, am zweiten Theil meines ›Faust‹ kann ich nur in den frühen Stunden des Tags arbeiten, wo ich mich vom Schlaf erquickt und gestärkt fühle und die Fratzen des täglichen Lebens mich noch nicht verwirrt haben. Und doch, was ist es, das ich ausführe! Im allerglücklichsten Falle eine geschriebene Seite, in der Regel aber nur soviel als man auf den Raum einer Handbreit schreiben könnte, und oft, bei unproductiver Stimmung, noch weniger.« ]

»Giebt es denn im allgemeinen,« sagte ich, »kein 282 Mittel, um eine productive Stimmung hervorzubringen oder, wenn sie nicht mächtig genug wäre, sie zu steigern?«

»Um diesen Punkt,« erwiederte Goethe, »steht es gar wunderlich, und wäre darüber allerlei zu denken und zu sagen.

Jede Productivität höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat, steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm thut wie es beliebt, und dem er sich bewußtlos hingiebt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höhern Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. Ich sage dies, indem ich erwäge, wie oft ein einziger Gedanke ganzen Jahrhunderten eine andere Gestalt gab, und wie einzelne Menschen durch das, was von ihnen ausging, ihrem Zeitalter ein Gepräge aufdrückten, das noch in nachfolgenden Geschlechtern kenntlich blieb und wohlthätig fortwirkte.

Sodann aber giebt es eine Productivität anderer Art, die schon eher irdischen Einflüssen unterworfen ist 283 und die der Mensch schon mehr in seiner Gewalt hat, obgleich er auch hier immer noch sich vor etwas Göttlichem zu beugen Ursache findet. In diese Region zähle ich alles zur Ausführung eines Plans Gehörige, alle Mittelglieder einer Gedankenkette, deren Endpunkte bereits leuchtend dastehen; ich zähle dahin alles dasjenige, was den sichtbaren Leib und Körper eines Kunstwerks ausmacht.

So kam Shakespearen der erste Gedanke zu seinem ›Hamlet‹, wo sich ihm der Geist des Ganzen als unerwarteter Eindruck vor die Seele stellte, und er die einzelnen Situationen, Charactere und Ausgang des Ganzen in erhöhter Stimmung übersah, als ein reines Geschenk von oben, worauf er keinen unmittelbaren Einfluß gehabt hatte, obgleich die Möglichkeit, ein solches Aperçu zu haben, immer einen Geist wie den seinigen voraussetzte. Die spätere Ausführung der einzelnen Scenen aber und die Wechselreden der Personen hatte er vollkommen in seiner Gewalt, sodaß er sie täglich und stündlich machen und daran wochenlang fortarbeiten konnte, wie es ihm nur beliebte. Und zwar sehen wir an allem, was er ausführte, immer die gleiche Kraft der Production, und wir kommen in allen seinen Stücken nirgends auf eine Stelle, von der man sagen könnte, sie sei nicht in der rechten Stimmung und nicht mit dem vollkommensten Vermögen geschrieben. Indem wir ihn lesen, erhalten wir von ihm den Eindruck eines geistig 284 wie körperlich durchaus und stets gesunden kräftigen Menschen.

Gesetzt aber, eines dramatischen Dichters körperliche Konstitution wäre nicht so fest und vortrefflich, und er wäre vielmehr häufigen Kränklichkeiten und Schwächlichkeiten unterworfen, so würde die zur täglichen Ausführung seiner Scenen nöthige Productivität sicher sehr häufig stocken und oft wohl tagelang gänzlich mangeln. Wollte er nun, etwa durch geistige Getränke, die mangelnde Productivität herbeinöthigen und die unzulängliche dadurch steigern, so würde das allenfalls auch wohl angehen, allein man würde es allen Scenen, die er auf solche Weise gewissermassen forcirt hätte, zu ihrem großen Nachtheil anmerken.

Mein Rath ist daher, nichts zu forciren und alle unproductiven Tage und Stunden lieber zu vertändeln und zu verschlafen, als in solchen Tagen etwas ma chen zu wollen, woran man später keine Freude hat.«

»Sie sprechen,« erwiederte ich, »etwas aus, was ich selber sehr oft erfahren und empfunden und was man sicher als durchaus wahr und richtig zu verehren hat. Aber doch will mir scheinen, als ob wohl jemand durch natürliche Mittel seine productive Stimmung steigern könnte, ohne sie gerade zu forciren. Ich war in meinem Leben sehr oft in dem Fall, bei gewissen complicirten Zuständen zu keinem rechten Entschluß kommen zu können. Trank ich aber in solchen Fällen einige Gläser Wein, so war es mir klar, was zu thun 285 sei, und ich war auf der Stelle entschieden. Das Fassen eines Entschlusses ist aber doch auch eine Art Productivität, und wenn nun einige Gläser Wein diese Tugend bewirkten, so dürfte ein solches Mittel doch nicht ganz zu verwerfen sein.«

»Ihrer Bemerkung,« erwiederte Goethe, »will ich nicht widersprechen; was ich aber vorhin sagte, hat auch seine Richtigkeit; woraus wir denn sehen, daß die Wahrheit wohl einem Diamant zu vergleichen wäre, dessen Strahlen nicht nach einer Seite gehen, sondern nach vielen. Da Sie übrigens meinen ›Diwan‹ so gut kennen, so wissen Sie, daß ich selber gesagt habe:

Wenn man getrunken hat,

Weiß man das Rechte,

und daß ich Ihnen also vollkommen beistimme. Es liegen im Wein allerdings productivmachende Kräfte sehr bedeutender Art, aber es kommt dabei alles auf Zustände und Zeit und Stunde an, und was dem einen nützt, schadet dem andern. Es liegen ferner productivmachende Kräfte in der Ruhe und im Schlaf; sie liegen aber auch in der Bewegung. Es liegen solche Kräfte im Wasser und ganz besonders in der Atmosphäre. Die frische Luft des freien Feldes ist der eigentliche Ort, wo wir hingehören; es ist als ob der Geist Gottes dort den Menschen unmittelbar anwehte und eine göttliche Kraft ihren Einfluß ausübte. Lord Byron, der täglich mehrere Stunden im Freien lebte, bald zu Pferde am Strande des Meeres reitend, bald im Boote 286 segelnd oder rudernd, dann sich im Meere badend und seine Körperkraft im Schwimmen übend, war einer der productivsten Menschen, die je gelebt haben.«

Goethe hatte sich mir gegenübergesetzt, und wir sprachen noch über allerlei Dinge. Dann verweilten wir wieder bei Lord Byron, und es kamen die mancherlei Unfälle zur Erwähnung, die sein späteres Leben getrübt, bis zuletzt ein zwar edles Wollen, aber ein unseliges Geschick ihn nach Griechenland geführt und vollends zu Grunde gerichtet.

»Überhaupt,« fuhr Goethe fort, »werden Sie finden, daß im mittlern Leben eines Menschen häufig eine Wendung eintritt, und daß, wie ihn in seiner Jugend alles begünstigte und alles ihm glückte, nun mit einem Mal alles ganz anders wird, und ein Unfall und ein Mißgeschick sich auf das andere häuft.

Wissen Sie aber, wie ich es mir denke? – Der Mensch muß wieder ruinirt werden! Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter von nöthen, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas anderm. Da aber hienieden alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern, bis er zuletzt unterliegt. So ging es Napoleon und vielen andern: Mozart starb in seinem sechsunddreißigsten Jahre, Raphael in gleichem Alter, Byron nur um weniges älter. Alle aber hatten 287 ihre Mission auf das vollkommenste erfüllt, und es war wohl Zeit daß sie gingen, damit auch andern Leuten in dieser, auf eine lange Dauer berechneten Welt noch etwas zu thun übrigbliebe.«

Es war indeß tief Abend geworden, Goethe reichte mir seine liebe Hand, und ich ging.